Westliche Mittelstreckenwaffen im Einsatz gegen Ziele in Russland selbst? Was bei Kriegsbeginn nicht einmal im Entferntesten in Erwägung gezogen wurde, wird nun intensiv in Washington, London und Paris diskutiert.
Seit 2022 hat sich jedoch geopolitisch, sowie militärisch in der Ukraine viel getan. Die westliche Unterstützung des von Russland angegriffenen Staates, hat sich über den Kriegsverlauf immer weiter verstärkt. Von Munition, Hilfsgeldern und Helmen, hat die westliche Koalition der NATO Staaten bei der Unterstützung der Ukraine immer mehr gewagt und die Drohungen aus Moskau dabei ignoriert. So wurden nach langem Zögern im letzten Jahr auch schwere Kampfpanzer, Panzerhaubitzen und andere Gefechtsfahrzeuge aus westlicher Produktion geliefert. Auch erhielt die Ukraine nach langer Lobbyarbeit eine Staffel von F-16 Mehrzweckkampflugzeugen.
Die Beteiligung der NATO-Partner im Ukraine Krieg überschritt im Verlauf viele der von Russland gezogenen roten Linien. Nukleare, sowie konventionelle Drohungen gegenüber Europa und den USA waren, im Anbetracht der Waffenlieferungen an die Ukraine an der Tagesordnung. Doch Russland hat abgesehen von seiner nuklearen oder hybriden Kriegsführung kaum Eskalationspotenzial. Diese Tatsache spiegelt sich in dem immer weiter hochschraubenden Niveau der westlichen Waffen für die Ukraine wider.
Daher steht der Westen kurz davor, der Ukraine zu erlauben, westliche Mittelstreckenraketen auch gegen Ziele auf russischem Boden einzusetzen. Vorrangig geht es dabei um Boden-Boden und Luft- Boden gestützte Marschflugkörper wie die amerikanischen ATACMS, die britischen Storm Shadow und die französischen SCALP. Die Ukraine verfügt zwar seit Längerem über diese Waffensysteme, durfte sie jedoch bisher nur gegen Ziele im eigenen Land einsetzen. Die Aufhebung der Beschränkungen des Einsatzes auf russischem Boden wäre ein Paradigmenwechsel.
Die letztendliche Entscheidung zur Aufhebung der Beschränkungen ist noch nicht finalisiert. Nach Angaben des Guardian, soll Großbritannien der Ukraine den Einsatz der Storm Shadow Raketen auf russischem Boden bereits ohne offizielle Ankündigung genehmigt haben. Die Amerikaner sollen ebenfalls Andeutungen gemacht haben, sind jedoch wegen möglicher russischer Unterstützung des Irans im Nahostkonflikt noch zögerlich. Aus Moskau sind weiter Drohungen zu hören, Putin betont, dass sich der Westen mit diesen Waffen zur Kriegspartei mache.
Unabhängig von der letztendlichen Entscheidung lohnt es sich, zu betrachten, welche Wirkung die Mittelstreckenwaffen auf den Krieg hätten. Dafür hat TIMEVIBE russische Militäreinrichtungen in Reichweite der westlichen Waffen analysiert.
ANALYSE
Die an die Ukraine gelieferten ATACMS, Storm Shadow und SCALP Raketen, haben alle eine gedrosselte Reichweite von bis zu 290km. In der Analyse gehen wir davon aus, dass die Raketen aus ukrainischem Gebiet, in russisches Gebiet abgefeuert werden. Da luftgestützte Raketen durch ukrainische Kampfflugzeuge, aus von Russland kontrolliertem ukrainischen Gebiet abgefeuert werden können, geht TIMEVIBE von einer durchschnittlichen Maximalreichweite von 300 km aus. Ausgehend von der ursprünglichen russisch-ukrainischen Grenze (ohne die Krim).
Diese erste sehr unübersichtliche Karte zeigt alle bis 2022 bekannten russischen Militäreinrichtungen. Sie umfasst Luft, Marine und Infanteriestützpunkte, Trainingsgelände, FSB Einrichtungen, Raketen und Luftabwehrstellungen, sowie Funktürme und Stützpunkte der Nationalgarde.
Mithilfe von Google Earth konnte TIMEVIBE ermitteln, welche russischen Militäreinrichtungen in Reichweite der potenziellen westlichen Marschflugkörpern liegen. Die Standorte der Militäreinrichtungen sind über die OSINT (Open Source Intelligence) Szene und frei zugreifbare, hochauflösende Satellitenbilder verfügbar. Es handelt sich dabei um Informationen, die entweder aktuell sind oder kurz vor Kriegsausbruch zugänglich waren. Daher gibt es keine Gewähr zu der von TIMEVIBE erstellten Karte. Trotzdem sind die meisten aufgeführten Militäreinrichtungen bekannt und auch im Ukraine Konflikt täglich Teil des Kriegsgeschehens.
Die russische Luftwaffe
Der Hauptgrund, warum die Ukraine die westlichen Mittelstreckenwaffen benötigt, ist die Offensivfähigkeit gegenüber russischen Luftstützpunkten. Russlands Luftwaffe konnte bisher relativ ungestört, von tiefer im Land gelegenen Luftstützpunkten aus, die ukrainische Front attackieren. Ihre Flughäfen lagen dabei außerhalb der Reichweite von ukrainischer Artillerie und Marschflugkörpern. Deshalb überstand die russische Luftwaffe den Krieg im Gegensatz zu den anderen Teilstreitkräften bisher mit wenig Verlusten. Der Einsatz der westlichen Mittelstreckenwaffen mit Luftstützpunkten als High Value Targets, würde Russland diesen Vorteil nehmen.
Auf diesem Ausschnitt sind die 23 Haupteinrichtungen der russischen Luftwaffe zu sehen, die in Reichweite der in der Diskussion stehenden Mittelstreckenwaffen liegen. Von diesen Stützpunkten bombardiert Russland seit Kriegsbeginn die Front und Infrastruktur der Ukraine.
Vor allem die innerhalb der Reichweite liegenden Stützpunkte Voronezh, Borisoglebsk und Kirovskoye spielen eine große Rolle bei der Unterstützung der Luftangriffe auf die Ukraine. Auf den Basen der Krim und im Westen Russlands, sollen unter anderem Tupolev Bomber und Kh-101 Marschflugkörper stationiert sein. Daher waren diese Stützpunkte auch in der Vergangenheit bereits Ziele für ukrainische Drohnenangriffe. Die westlichen Marschflugkörper sind jedoch wesentlich schneller, effizienter und schwieriger abzufangen als Langstreckendrohnen.
Auch russische Channels und Militärblogger sorgen sich um den Einsatz westlicher Marschflugkörper und deren Gefahr für die Stabilität der Front. Dort wird betont, dass die Ukraine mit ihnen die Angriffe auf Luftstützpunkte priorisieren wird. Die Sorge ist berechtigt, denn bisher wurden von der russischen Militärführung kaum Maßnahmen zum Schutz dieser Luftstützpunkte, wie beispielsweise Flugzeugbunker, getroffen. In der Folge, müsste die russische Luftwaffe Logistik und Heimatflughafen für seine Luftoperationen so weit wie möglich von der Front verlegen. Dies würde die Effizienz der Luftunterstützung für die gesamte Kriegsführung in der Ukraine verschlechtern. Auch müsste ein großer Teil, der ohnehin schon knappen, russischen Luftabwehr verlegt werden.
Russische Landstreitkräfte
Doch nicht nur Luftstützpunkte sind durch durch westlichen Hightech bedroht; auch russische Kasernen, Trainingsgelände und Hauptquartiere hinter der Front sind wären in der Gefahrenzone. Auch wenn viele russische Regimente ihre Standorte dauerhaft in besetztes, ukrainisches Territorium verlegt haben, läuft immer noch ein großer Teil der Kriegslogistik in russischem Gebiet ab. Auch hier gilt, wie bei den Luftstützpunkten, dass die Ukraine außer vereinzelten Drohnenangriffen kaum über die Offensivkapazitäten verfügt, um in Russland gelegene Infrastruktur und Landstreitkräfte zu attackieren.
TIMEVIBE konnte allein 102 unterschiedliche Ansammlungen russischer Militäreinrichtungen und Regimente im Radius der potenziellen westlichen Mittelstreckenwaffen identifizieren. Die russischen Landstreitkräfte haben sich seit 2022 zwar massiv verschoben, trotzdem wird die Zahl an militärischen Einrichtungen aufgrund neu angelegter russischer Logistiklinien und gesteigerter Ausbildung seitdem eher zugenommen haben.
In diesem Kartenabschnitt sind viele unterschiedliche Teile der Landstreitkräfte aber auch Ausbildungsstätten für Marine und Luftwaffe zu sehen. Regimente der Luftabwehr, der elektronischen Kriegsführung, der Panzerabwehr, der mechanisierten Infanterie, der Ingenieure usw. liegen alle in in Reichweite und geben für die Ukraine attraktive Ziele ab. Der Einsatz gegen die Landstreitkräfte könnte dabei denselben verheerenden Effekt haben, den HIMARS im Jahr 2023 auf die russische Truppenlogistik hatte, nur im größeren Maßstab.
Vor allem auch Logistikzentren und Lagerstätten wie beispielsweise das "120th Arms Arsenal" sind dabei High Value Targets.
Hier ist ein mögliches Ziel in der Nahaufnahmen zu sehen; das 120 Waffenarsenal der russischen Armee nahe Brjansk. Es sind viele von Russland genutzte Fahrzeuge und Waffen sichtbar und ohne Schutz geparkt. Links im Bild sind gepanzerte Truppentransporter (vielleicht BTR-3 und BTR-4´s) zu sehen, sowie 120mm und 152mm Feldhaubitzen. Rechts sind LKW´s und andere für die Logistik vorgesehene Fahrzeuge zu erkennen. Auch sind die eingekreisten Hallen wahrscheinlich Depots für Munition und weitere Waffen und Fahrzeuge.
Dieses Arsenal ist knapp 110 km von der ukrainischen Grenze entfernt und somit in der mittleren Reichweite der westlichen Waffensysteme.
Ausblick
Alle diese Überlegungen zu russischen Zielen sind bis jetzt noch Gedankenspiele und Beispiele für potenzielle Einsätze in der Zukunft. Erst einmal muss vormals die Biden Regierung die Freigabe erteilen, England und Frankreich werden dann mit öffentlichen Erklärungen folgen. Wie wahrscheinlich diese Freigabe ist, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Der Westen ist zwar mutiger geworden, fürchtet jedoch immer noch die Eskalation mit Russland und seinen Partnern.
Gerade die USA sind in einer verwundbaren Position; mitten im chaotischsten Wahlkampf jemals, mit Bündnisverpflichtungen in Isreal, Taiwan und Südkorea. Alles drei geopolitische Spielbälle, in dessen Zusammenhang Russland über den Einfluss verfügt, seine Partner dort zur Provokation zu bewegen. Die europäischen Verbündeten der Ukraine, wollen jedoch trotzdem am liebsten im Kielwasser der USA agieren, nur Großbritannien hat etwas mehr Selbstbewusstsein. Deutschland hingegen lehnt Waffen mit mehr Reichweite innerhalb Russlands immer noch ab.
Die ukrainische Invasion des russischen Gebietes Kursk, hat letztendlich die lange festgefahrene Diskussion um die Waffenfreigabe erneut angefeuert. Denn sie hat gezeigt, dass die russischen "unüberschreitbaren" roten Linien flexibler sind, als gedacht. Ob diese Verlagerung der Ukrainer von Defensive zu Offensive militärisch klug war, wird sich zeigen. Doch für die Motivation zu weiteren Hilfen hätte die ukrainische Führung keine bessere Entscheidung treffen können.
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